Reichen 20 Jahre aus, um in einem Land wie Afghanistan eine selbständige und wehrhafte, offene und demokratische Nation zu etablieren? Offensichtlich nicht. Das Tragische am Afghanistan-Einsatz ist nicht, dass sich der Westen auf durchaus unmoralische Weise aus der Verantwortung stiehlt, sondern dass ein Prozess aufgegeben wird, den das Land und viele der Menschen dort vielleicht wirklich begrüßt hätten. Die demokratische Nationsbildung in Afghanistan ist gescheitert, besonders weil die westlichen Besatzungsmächte uneins darüber waren, was mit dem Land geschehen soll und weil den tatsächlichen Problemen der Afghan*innen zu wenig Aufmerksamkeit gezollt wurde.
Hilfszahlungen alleine sind selten erfolgreich. Wofür und wo investiert wird, ist entscheidend. Ebenso entscheidend ist, dass der Westen bereits jedes Vertrauen verloren hatte, bevor sich die politischen Entscheidungsträger*innen dazu entschlossen hatten, das Land nach 20 Jahren sich selbst zu überlassen. Ein Nationsbildungsprozess braucht in der Regel Zeit und Menschen, die sich mit der Nation identifizieren. Afghanistan blieb aber in vielerlei Hinsicht gespalten. Einigkeit und Einheit wurde jedoch auch von Seiten des Westens nicht gezeigt, wenn es etwa um Projekte zum Ausbau der Infrastruktur, für den besseren Zugang zu Bildung sowie zur Bekämpfung der Korruption ging. Darüber hinaus wurde der Fokus bei solchen Maßnahmen oft auf die urbanen Räume gelegt, wohingegen die Landbevölkerung nur selten von der Anwesenheit der westlichen Truppen profitierte.
Im Gegenteil, die im Drohnenkrieg der USA getöteten Zivilist*innen, lebten oft genau dort. Wenn die Westmächte heute der afghanischen Armee den „schwarzen Peter“ zuschieben und diese für das schnelle Vorrücken der Taliban verantwortlich machen, dann wird vergessen, dass der Abzug der USA ohne ausreichende Abwägung der Konsequenzen für die afghanische Bevölkerung getroffen wurde, dass sich die Soldaten Afghanistans im Stich gelassen fühlen könnten und mitunter vielleicht gar nicht wüssten, wofür sie kämpfen sollten. Die im Westen vielgelobte Demokratie war von der Korruption vor Ort untergraben worden und da viele Mittel nur selten bei denen ankamen, die diese benötigt oder wirklich von diesen profitiert hätten, bleibt es fraglich, wie viele Menschen die Präsenz der USA und anderer NATO-Mitgliedsstaaten im Land wirklich vermissen werden – natürlich abgesehen von denen, die die Taliban ablehnen, mit den USA oder EU-Staaten zusammengearbeitet hatten und deshalb Repressionen fürchten oder eine offenere und demokratischere Lebensweise präferieren und deshalb nun versuchen, das Land zu verlassen.
Darüber hinaus verlieren die USA sowie die EU ihre Glaubwürdigkeit und die Beschwörung westlicher Werte kann lediglich als Hohn empfunden werden. Diejenigen, die sich aktiv für ein neues und besseres Afghanistan einsetzten, wurden und werden zurückgelassen, während die Taliban seit den Verhandlungen mit den USA und den erfolgreichen Gesprächen über die Zukunft Afghanistans beinahe ganz natürlich als neue Entscheidungsträger auftreten.
Jenseits des humanitären Versagens, das unter anderem dadurch Ausdruck findet, dass deutsche Politiker*innen wahlstrategisch vor einer „Wiederholung von 2015“ warnen, um nicht eine große Anzahl von Afghan*innen aufzunehmen, werden die aktuellen Ereignisse viel umfassendere Veränderungen nach sich ziehen, die auch jenseits des deutschen Wahlkamps und der nationalen Grenzen Afghanistans die Zukunft bestimmen.
Das Vakuum, das der Abzug der USA und der NATO-Mitgliedsstaaten in Afghanistan geschaffen hat, wird bereits von anderen Großmächten, allen voran China, genutzt. Dass man in Peking weniger Interesse an Freiheit und Menschenrechten hat, haben die letzten Monate in Hong Kong oder Xinjiang bereits gezeigt. Wirtschaftliche und geostrategische Interessen wiegen dort ebenfalls mehr als humanitäre. So wird die Zukunft Afghanistans von extremistischen Taliban und den ausbeuterisch-kapitalistischen Interessen anderer Staaten bestimmt. Für freiheitliche Werte, demokratische Partizipationsprozesse und die Gleichberechtigung der Geschlechter wird es dahingehend wenig Interesse und Raum geben.
Die unmoralische Entscheidung des Westens dürfte zudem zweierlei Langzeitwirkungen mit sich bringen. Zum einen werden Menschen weltweit den Glauben an die freiheitlich-demokratischen Rechte, die so oft als Ideale der EU oder der USA beschworen werden, verlieren. Nicht zuletzt die Wahrnehmung des westlichen Desinteresses am Leid der Welt – Stichwort: Pandemie im globalen Süden – wird durch die Afghanistan-Krise noch verstärkt, so dass das Vertrauen in die Werte und Ideale, als deren Vertreterin sich die EU betrachtet, weiter ausgehöhlt werden. Gleichzeitig dürfte das allerdings ebenso zur Radikalisierung der anti-europäischen bzw. anti-westlichen Haltung in vielen dieser Regionen beitragen. Die scheinbare Untätigkeit der EU in weltweiten Krisensituationen – Hong Kong, Belarus und nun auch Afghanistan – wird das Bild Europas dauerhaft belasten.
Schließlich kommt hinzu, dass das scheinbar Wenige, was in 20 Jahren des Afghanistaneinsatzes erreicht wurde, schnell revidiert werden könnte, so dass die Frage erlaubt sein muss, ob der Einsatz per se ausreichend durchdacht und geplant worden war. Die Politik verspricht dahingehend Aufklärung: natürlich nach der Wahl. Die permanente Weigerung führender Politiker*innen, die Verantwortung für die momentane Krise zu übernehmen, ist einfach schäbig. Stattdessen winden sich führende Vertreter*innen der Regierung in Talkshows und verweisen auf eine spätere Aufklärung, anstatt klare Aussagen zu machen, d.h. gleichfalls ein Eingeständnis schlechter Planung und Vorbereitung zu verweigern.
Den Menschen in Afghanistan wird das alles nicht helfen. Viele werden leiden. Sie werden aber vielleicht überleben, entweder im Exil oder unter den Repressalien der Taliban. Die USA und Europa werden sie allerdings kaum noch als ideelle Vorbilder anerkennen können. Zu tief werden die Wunden sein, die Enttäuschung über den „Verrat“ und die Gewissenlosigkeit, die für das Leid der Menschen verantwortlich sind. Enttäuschte Hoffnungen und zerstörte Träume sind oft der Nährboden, auf dem sich eine menschliche Radikalisierung vollzieht. Die amerikanische Ansage, dass aus Afghanistan keine terroristische Gefahr mehr drohe, dürfte demnach ebenso viel Wert besitzen bzw. ebenso überzeugend sein, wie die bisherigen Informationen der Geheimdienste über die Stärke und Schlagkraft der Taliban.
Die Zukunft Afghanistans ist in vielerlei Hinsicht momentan noch unsicher, auch wenn es bereits viele Prognosen gibt. Fakt ist, dass die Afghan*innen dieser nun allein begegnen müssen. Es bleibt zu hoffen, dass der Anspruch der Menschen in Afghanistan auf Freiheit nicht vollends versiegen wird, selbst wenn „Freiheit“ und „Menschlichkeit“ in diesen Tagen kaum mehr zu sein scheinen, als das ideelle Wunschdenken derer, die die Realitäten der westlichen Politik nicht glauben oder wahrhaben wollen.