Hong Kongs Revolution hat kaum noch eine Zukunft. Das neue chinesische Sicherheitsgesetz zeigt Wirkung, denn die Massenproteste wurden durch extrem repressive Maßnahmen der Polizei und Sicherheitskräfte eingeschränkt. Gleichzeitig werden führende Oppositionelle — Jimmy Lai oder Joshua Wong — festgenommen und vor Gericht gezerrt. Das chinesische Regime macht deutlich: Wer sich nicht unterwirft, der wird mit der gesamten Macht des chinesischen Staates konfrontiert. Und China muss das, sofern die Regierung in Peking nicht immer wieder mit einem alternativen Systemmodell, das auf demokratischen Rechten basiert, konfrontiert werden will. Sobald Hong Kong auch politisch sinisiert ist, wird es kaum einen Widerstand geben können, der sich an den demokratischen Strukturen Hong Kongs orientieren kann, denn diese werden dann bereits der Vergangenheit angehören.
Die Revolution Hong Kongs hatte zudem von Beginn an mit einem Dilemma zu kämpfen. Zum einen repräsentierte die ehemalige britische Kronkolonie nicht die Massen Chinas, das heißt eine Erhebung gegen die chinesische Staatsmacht an der Peripherie des Landes, konnte nicht auf offene Empathie von Seiten der meisten Chinesen auf dem Festland hoffen. Die Revolutionsbewegung war schon deshalb kaum mehr als ein lokaler Protest gegen die Zentralisierungsbestrebungen Pekings, zumal Hong Kongs Sonderstellung nicht nur auf Seiten von Regierungsvertretern beanstandet wurde. Zum anderen kann Hong Kong wohl kaum auf eine Unterstützung aus dem Ausland, vor allem aus der EU hoffen. Zu abhängig sind die europäischen Staaten vom Handel mit China, dessen Wirtschaftskraft ein essentieller Bestandteil der globalisierten Weltwirtschaft ist. Es ist der chinesische Absatzmarkt, der in Peking reglementiert wird, der ein stärkeres Auftreten der EU und ihrer Mitgliedstaaten gegen die expansionistischen Bestrebungen Chinas verhindert.
Die Werte und Ideale, auf die die europäische Gemeinschaft immer wieder hinweist, zählen folglich nur dann, wenn diese durchzusetzen sind, ohne dass dadurch wirtschaftliche Interessen gefährdet würden. Warum kann die EU nicht stärker gegen China auftreten, wenn Menschenrechte so offensichtlich missachtet werden? Wenn die Freiheit so vieler auf dem Spiel steht? Warum setzt sich die EU nur dann offensiv ein, wenn Sanktionen sowieso kaum noch eine Rolle spielen und selten mehr als einen bekennenden Effekt haben? Muss das Wohl einer Autoindustrie, die, wie vergangene Skandale offenbart haben, systemisch kriminell ist, bestimmen, wann die EU zum Wohle der Werte, die sie als essentiell bezeichnet, einschreiten darf? Müssen kapitalistische Interessen einer Sanktion gegen Unrechtsregime im Wege stehen? Sich lediglich danach zu richten, wen man ökonomisch braucht, um zu entscheiden, welche Menschenrechtsverletzung kritisiert werden darf, ist nicht nur bigott, sondern gleichfalls moralisch falsch. Unternehmen, die sich nur auf einen Markt verlassen, ohne die eigenen Strukturen und Produkte zu modernisieren, sind keine Schlüsselindustrien und sollten keinen Anteil an der Entscheidung haben, ob sich die EU als Wertegemeinschaft gegen die Missachtung von Menschenrechten in Hong Kong, aber auch in Festlandchina — genannt sei hier die Lage der Uiguren — aussprechen und im Zuge dessen Peking ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Interessen kritisieren kann.
Die kapitalistische Geißelung europäischer Werte geht indessen soweit, dass ein echtes Einschreiten der EU gegen genozidale und anti-revolutionäre Repressionen nicht mehr bleibt als ein leises Flüstern auf der Bühne internationaler Beziehungen. Die Frage bleibt, wie weit sich ein auf Werten und Idealen basierender Staatenverbund zurücknehmen will, wenn Menschen verhaftet und gefoltert werden, weil ein autokratisches Regime keinerlei Kritik an der eigenen Politik akzeptieren will und kann. Inwieweit darf ein ökonomisches Interesse die Handlungsmöglichkeiten der EU erodieren, so dass am Ende nicht mehr bleibt, als ein politischer Staatenverbund, der sich seine Entscheidungen von Wirtschaftsinteressen diktieren lässt? Wäre die EU zu schwach, um echte Sanktionen gegen China durchzusetzen? Wir werden es vermutlich nie erfahren. Aus europäischer Sicht scheint jedoch eines offensichtlich: Menschenrechte zählen nur wenig.
Der Ausverkauf moralischer Werte muss aufhören. Entscheidungen müssen schließlich auf Basis eben dieser getroffen werden, selbst wenn es der eigenen Industrie und der Handelsbilanz schadet. Andernfalls verliert die EU und damit natürlich auch Deutschland jegliche Glaubwürdigkeit. Den Menschen in Hong Kong, Belarus und andernorts ist nicht geholfen, wenn deren Hoffnungen auf Unterstützung aus Europa befeuert werden, ohne dass den Absichtserklärungen Taten folgen. Die Diktatoren der Welt wissen, dass die EU sich zwar ideell positionieren wird, wenn die Rechte von Menschen missachtet werden, sie wissen aber gleichzeitig, dass diese Positionierung kaum eine Konsequenz nach sich ziehen dürfte, die es nötig machte, die eigene Politik in irgendeiner Weise zu verändern.
Das Tragische daran ist, dass diese Machtlosigkeit ein Produkt des Unwillens und nicht des Unvermögens der EU darstellt. Es gilt daher in erster Linie zu überlegen, ob dieser Zustand weiter toleriert werden kann, wobei sich nicht nur die Frage stellt, inwieweit die EU dazu in der Lage ist, sich wirtschaftlich unabhängig zu machen, sondern mit ähnlichen Problemen autokratischer Versuche, Menschenrechte außer Kraft zu setzen — Ungarn, Polen etc. —, umgehen soll. Demzufolge ist das Dilemma Hong Kongs gleichzeitig eines der EU. Gerade jetzt, da US-Präsident Donald Trump die finanzielle Unterstützung pro-demokratischer Organisationen in Hong Kong, Belarus und im Iran gestoppt hat, ist ein Handeln der EU mehr als wichtig, denn die Protestierenden richten ihre Hilfegesuche nun umso mehr in Richtung Brüssel. Revolutionärinnen und Revolutionären, die versuchen, Freiheit für die Menschen ihres Landes zu schützen, zu verteidigen oder erst zu erringen, müssen bei der EU mehr finden als halbherzige Solidaritätsbekundungen. Die Wertegemeinschaft darf sich nicht durch Drohungen einer Marktbeschränkung für europäische Waren ihren moralischen Kurs diktieren lassen, sondern muss die eigene Stärke erkennen um demokratischen Bewegungen im Inneren wie in anderen Ländern aktive Unterstützung zu sichern.
Noch stärkere anti-demokratische Regime, die den Welthandel ebenso diktatorisch beherrschen wollen wie die eigene Bevölkerung, werden sich auch in Zukunft nicht von Absichtserklärungen oder halbherzigen Sanktionen beeindrucken lassen. Die EU muss sich also darüber im Klaren sein, dass zur Zeit nicht nur das Schicksal der Menschen in Hong Kong, sondern ebenso die eigene Glaubwürdigkeit als Hort von Moral, Anstand und demokratischen Werten verspielt wird. Nur wer sich diktatorischen Ansprüchen und der Unterdrückung aktiv und mit allen verfügbaren Mitteln entgegenstellt, kann einen weiteren Verfall der Weltdemokratie sowie ein gewaltsames Ende pro-demokratischer Revolutionsbewegungen verhindern. Revolutionen laufen schließlich nicht im Vakuum ab, sondern ihr Ausgang hängt vor allem von der Haltung anderer globaler „Mitspieler“ ab und davon, wie diese sich zum revolutionären Prozess positionieren. Von Seiten der EU wurde bisher nur die eigene Uneinigkeit demonstriert und es bleibt abzuwarten, ob sich die RegierungsvertreterInnen in Brüssel auf einen einheitlichen Kurs, basierend auf Moral und dem Wert von Menschenrechten, einigen können.