Das globale 21. Jahrhundert begann mit einer Wirtschaftskrise, im Zuge derer ein Umdenken über den Kapitalismus hätte stattfinden können, doch scheinbar ist selbst eine Pandemie irrelevant, wenn es um die Verteidigung kapitalistischer Normen geht. Anstatt einer ansteigenden Solidarität innerhalb einzelner Gesellschaften und einer Solidarisierung mit den Schwachen der Welt, werden weiter Argumente vorgebracht, die die weitere ungehemmte Produktion und Nutzung wirtschaftlicher Ressourcen fordern. Man könne es sich nicht leisten, die Wirtschaft eines Landes, gar einer ganzen transnationalen Region zu schließen. Zu schwerwiegend wären die Folgen. Indessen profitieren von der Kontinuität wirtschaftlicher Prozesse in erster Linie große Konzerne, die mitunter Überbrückungshilfen, wie etwa das Kurzarbeitergeld in Deutschland, ausnutzen, um marode Strukturen auf Staatskosten zu sanieren. Und gerade weil viele Menschen in diesen Tagen nur dank staatlicher Maßnahmen dazu in der Lage sind, ihre von Armut und sozialem Abstieg bedrohte Existenz fortzusetzen, stellt sich die Frage, ob es nicht sinniger wäre, die Wirtschaft an die allgemeine Lockdownpolitik anzuschließen und einfach zu schließen. Das Kurzarbeitergeld könnte auch in diesem Fall weiterlaufen, selbst wenn nicht die Möglichkeit zum Home Office besteht.
Darüber hinaus sollte darüber diskutiert werden, welche Rolle der Kapitalismus in Zukunft spielen soll, denn zum Schutz der von COVID-19 bedrohten Menschen hat dieser eben nicht beigetragen. Zudem scheinen große Unternehmen nur für den schnellen Profit der Anleger gewirtschaftet zu haben, so dass Rücklagen nicht ausreichen, um einen harten Lockdown zu riskieren. Im Zuge dieser Erkenntnis zeigt sich auch, dass Unternehmen vorwiegend in Krisen nach dem Staat und Hilfe rufen, diese aber weitestgehend selbst verweigern, so lange das Geschäft boomt. Der Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern scheint zudem keine Priorität zu besitzen, wenn Unternehmen darauf bestehen, dass diese unter Einsatz ihrer Gesundheit ihre Tätigkeiten fortsetzen. Nachdem Deutschland sich schon im dritten Lockdown seit Krisenbeginn befindet, sei die Frage erlaubt, ob ein langer und harter Lockdown für alle nicht wesentlich effizienter gewesen wäre.
Je länger die Krise andauern wird, umso mehr Menschen, sei es im kulturellen oder im Veranstaltungssektor, im Einzelhandel oder der Gastronomie, werden von sozialem Abstieg bedroht werden, da ihnen die finanziellen Rücklagen fehlen, auf Dauer ohne stets Einkommen zu leben. Hier hat die Politik ebenfalls klar priorisiert. Die finanzielle Unterstützung großer und scheinbar systemrelevanter Konzerne hatte oberste Priorität, anstatt Schulen und Kitas, die sich schließlich doch als Infektionsquellen herausstellen sollten, zu schließen und gleichzeitig Eltern die Möglichkeit zu geben, zu Hause zu bleiben, um sich um Kinder und die Familie zu kümmern. Die wirtschaftlichen Notwendigkeiten haben dahingehend zu stark diktiert, wie in der Pandemie zu verfahren ist.
Die Konsequenzen werden am Ende verheerend sein. Die Zahlen der finanziell Machtlosen und sozial Deklassierten, ebenso wie der psychisch Geschwächten, für die die Pandemie mit Angst und Verlust einhergeht, werden steigen. Das wird zu einem Vertrauensverlust führen, der nicht nur den Staat sondern unsere Gesellschaft betreffen wird. Der Graben zwischen Armen und Reichen wird weiter vertieft und während letztere fröhlich weiter die Notwendigkeit eines freien Marktes und einer funktionierenden Wirtschaft predigen, werden erstere mehr und mehr ostrakisiert. Schon während der Pandemie wurden sie zu Opfern der Verleumdung, denn oft wurde behauptet, dass besonders prekäre Schichten der Gesellschaft zur Verbreitung des Virus beigetragen hätten. Dass selbst die Impfungen nach kapitalistischen Regeln ablaufen, hat die mangelnde Information über Verzögerungen bei der Auslieferung — natürlich Folge einer Produktions- und damit Gewinnsteigerung sowie der Bespielung aller großen Märkte weltweit — gezeigt, welche Rolle Pharmaunternehmen spielen und wie wenig deren Einfluss limitiert werden kann.
Was diese Umstände nahelegen, ist ein breites Umdenken innerhalb der Gesellschaft und einer Neubewertung der kapitalistischen Strukturen. Wie wollen wir leben? Dominiert von Marktinteressen, ausbeuterischen Großkonzernen und wirtschaftlichen Überlegungen oder doch solidarisch und vor allem breitenwirksam sozial? Diese Frage wird uns und die folgenden Generationen weiter beschäftigen, denn so lange kapitalistische Interessen einer reichen Minderheit das Leben der Masse bestimmen, wird Freiheit eine Illusion bleiben. Ausbeutung wird vielmehr Teil des Alltags bleiben und wenn das Gros der Menschen nicht bereit ist, die Lügen des kapitalistischen Systems, nämlich dass alle gleichermaßen Zugang zu diesem hätten, hinter sich zu lassen und eine wahrhaft freie und nicht auf Ausbeutung basierende Gesellschaftsform zu schaffen, dann wird die aktuelle Pandemie und die mit ihr verbundene Pandemie lediglich ein weiterer Schritt im Prozess der kontinuierlichen Deklassierung der Massen darstellen. Das globale Wirtschaftssystem ist auch heute, vielleicht mehr denn je, auf eine Akkumulation des Kapitals ausgerichtet und nutzt dazu gleichfalls heimische Ressourcen, etwa die so wichtige Arbeitskraft der Masse. Diese wird gerade in Zeiten der Pandemie schamlos ausgebeutet und ohne Rücksicht auf etwaige gesundheitliche Folgen im wahrsten Sinne des Wortes „verheizt“. Die Tatsache, dass sich die kapitalistische Wirtschaft mit all ihrer Kraft und all ihrem Einfluss immer wieder gegen einen harten Lockdown positioniert, muss schlussendlich als Problem erkannt und bezeichnet bzw. deklariert werden, denn in dieser Position wird bereits eine Wertung zum Ausdruck gebracht, die alles andere als solidarisch ist: Profit geht vor. Dieser dient wiederum nicht dem Wohle der Allgemeinheit, besonders da globale Konzerne oft alles tun, um einer Verantwortung, etwa in Form von Steuern, zu entgehen.
Die Zukunft in den Zeiten der Pandemie wird demnach so lange von eben diesem Konflikt zwischen Kapitalismus und kapitalistischer Elite auf der einen sowie zunehmend gesundheitlich gefährdeten und sozial absteigenden Massen auf der anderen Seite bestimmt. Dass durch diese Spaltung der Glaube in das herrschende System erschüttert wird, dürfte nicht überraschen. Eine essentielle Frage wird es aber bleiben, wann ein Punkt erreicht ist, an dem sich diese Massen entschließen, die bestehende Situation zu verändern. Und verändern können sie diese, denn es sind die Massen die das revolutionäre Potential einer Gesellschaft repräsentieren und dahingehend nicht nur den Zeitpunkt, sondern ebenfalls die Intensität der revolutionären Veränderungen bestimmen. Nur wenn die Massen weiterhin an den Kapitalismus glauben und der Überzeugung sind, von diesem profitieren zu können, wird dieser weiterbestehen. Sofern ein Punkt erreicht ist, an dem die Massen selbst in einem System, das sie ausbeutet, nichts mehr zu verlieren haben, weil sie möglicherweise aufgrund der Pandemie vor dem Abgrund bzw. dem Ende ihrer eigenen Existenz stehen, dann wird der Wille zur Schaffung eines gesellschaftliche Diskontinuums, zur Beendigung der bestehenden sozialen Ordnung und die Etablierung einer neuen, besseren und gerechten Welt, so stark, dass eine Revolution zur conditio sine qua non der Zukunft werden muss.