Der 6. Januar 2021 hat in den USA Bilder geschaffen, wie sie in Deutschland bereits im Zuge des Sturmes von Querdenkern und Rechtsradikalen auf den Reichstag Ende August 2020 entstanden sind. Angefeuert von den Kommentaren eines Präsidenten, der die Existenz demokratischer Abläufe und Werte per se in Abrede stellt und sich wie ein Kleinkind weigert, bestimmte und für alle geltende Regeln zu akzeptieren. Das Resultat dieser Weigerung war ein Protest Tausender Menschen in Washington, wo sich diejenigen, die sich schließlich aufmachten, das „Herz der amerikanischen Demokratie“ zu besetzen, selbst bisweilen als Revolutionärinnen und Revolutionäre, als Patrioten in der Tradition von 1776 verstanden wissen wollen. Deren antidemokratische Aktion war hingegen nicht mehr als ein Versuch, die Übergabe der Macht in einem demokratisch legitimierten System zu verhindern. Aus verschiedenen Gründen kann hier also nicht von einem revolutionären Akt gesprochen werden.
Gunnar Hindrichs hat beispielsweise in seinem Buch zur Philosophie der Revolution (2017) darauf hingewiesen, dass Revolutionärinnen und Revolutionäre sich erheben, um ein Diskontinuum der bestehenden Ordnung, also eine Veränderung derselben erreichen zu wollen. Im Gegensatz dazu haben sich die Unterstützerinnen und Unterstützer Trumps nun gerade gegen einen Wandel gestellt und damit ein System unterstützt, dass vielmehr reaktionär ausgerichtet ist. Vielen Trump-Wählerinnen und -Wählern werden ihre konservativen Werte nicht ausreichend geschützt, wobei diese nicht selten als Euphemismus für Rassismus, Sexismus, Homophobie etc. zu verstehen sind. Die Besinnung auf die Konföderierten Staaten, etwa durch das offensive Präsentieren der Flagge der Südstaaten impliziert eben das und zeigt, dass der Graben, der die amerikanische Gesellschaft spaltet, seine Ursprünge in historischen Konflikten hat, die weit zurückreichen. Dass nun die Revolution von 1776 beschworen wird, um 2021 einen Angriff auf die Demokratie und den Sturm auf das Kapitol zu legitimieren, ist mehr als absurd. Die Kräfte, die sich gegen die demokratischen Werte der USA, d.h. vor allem etwa Freiheit und Gleichheit, stellen, sind Gegner einer freiheitlichen Ordnung des Landes und damit bestenfalls als Konterrevolutionärinnen und -revolutionäre zu identifizieren, versuchen sie doch mit ihrer Aktion einen reaktionären Schritt zu tun.
Sicherlich sind nicht alle Trump-Wählerinnen und -Wähler derart extrem und vielen dürfte bei den Bildern des belagerten Kapitols klar geworden sein, dass eine Unterstützung des noch zwei Wochen amtierenden Präsidenten eine Gefährdung demokratischer Werte zur Folge haben und was zu einer Abwendung der gemäßigten Kräfte innerhalb des Trump-Lagers führen könnte. Wie stark der Glaube an ein freies und demokratisches Amerika wirklich ist, wird sich folglich in den kommenden Tagen und Wochen zeigen. Wirklich revolutionär sind die USA dabei schon lange nicht mehr. Dass eine antidemokratische Aktion als revolutionärer Akt begriffen wird, hängt damit zusammen, dass das Verständnis dessen, was eine Revolution wirklich ist, schlichtweg fehlt. Revolution und Widerstand werden gleichgesetzt, ohne den Unterschied zu erkennen. Darüber hinaus wird missachtet, dass das grundlegende Ziel eines revolutionären Aktes die Freiheit ist, und zwar nicht nur die Freiheit der Revolutionärinnen und Revolutionäre, sondern die Freiheit aller. Hier verstehen sich die Trump-Anhängerinnen und -Anhänger als Unterdrückte, deren Stimmen nicht gehört, ja bei der Wahl angeblich nicht gezählt worden wären. Diese Verschwörungsnarrative wurden von Trump selbst geschürt und semiotisch aufgeladen. Es sei patriotische Pflicht gegen den Betrug vorzugehen, einen Betrug der bis heute nur als Behauptung im Raum steht.
Doch Fakten sind hier zwangsläufig irrelevant. Es geht um Gefühle und diese hat der Präsident während seiner Amtszeit schamlos ausgenutzt und bis zuletzt versucht, das Unausweichliche abzuwenden. Die Mehrheit der Bevölkerung, und die benötigte eine echte revolutionäre Erhebung die ein Diskontinuum der bestehenden Ordnung forderte, hat die demokratische Machtübergabe, per se kein revolutionärer Akt, sondern ein Kontinuum bestehender Strukturen, sanktioniert und Joe Biden zum Präsidenten gewählt. Doch selbst innerhalb revolutionärer Prozesse ist Teil des freiheitlichen Grundverständnisses, die Entscheidung der Mehrheit zu akzeptieren. Rosa Luxemburg hatte in ihrem viel zitierten Satz zur Freiheit, aus ihrer erst postum veröffentlichten Schrift, „Die russische Revolution“ (1922), dieses Grunddiktum bereits deutlich hervorgehoben: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ‚Gerechtigkeit‘, sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ‚Freiheit‘ zum Privilegium wird.“ Die Ablehnung der mehrheitlichen Entscheidung und damit die Infragestellung der demokratischen Freiheit, eine Kandidatin oder einen Kandidaten durch Stimmabgabe zu legitimieren, kommt damit einer Infragestellung der freiheitlichen Ideale der amerikanischen Verfassung und des existierenden politischen Systems gleich. Die Trump-Anhängerinnen und -Anhänger, die sich in Washington versammelten, um die Fortsetzung des demokratischen Prozesses zu verhindern, agierten folglich gegen die Umsetzung der allen gewährten Freiheit. Sie sind demnach nicht mehr als ein antidemokratischer Mob, verblendet von den Verschwörungsnarrativen eines scheidenden Präsidenten, der vor allem die Angst vor Sozialismus und Kommunismus, die die Geschichte der USA seit 1917 nicht selten bestimmt hat, schürt und der in keiner Weise als revolutionär verstanden werden darf, schadete eine solche Nomenklatur doch dem Ansehen der Werte, die durch Amerikanischen Revolution errungen und bis heute verteidigt wurden. Eine Hinwendung zu Trump ginge folglich mit einer Abkehr von den revolutionär geschaffenen und demokratisch immer wieder legitimierten Grundrechten der amerikanischen Nation einher.
Revolutionen können nicht von Minderheiten bestimmt werden, denn in einem solchen Falle verlören sie ihren revolutionären Charakter. Die Herrschaft weniger Menschen über die Masse der Bevölkerung ist eine Diktatur. Dass sie gerade einer solchen mit ihrem Sturm auf das Kapitol Vorschub geleistet hätten, verstehen viele der selbsternannten Verteidigerinnen und Verteidiger des amerikanischen Patriotismus nicht. Das revolutionäre Selbstverständnis ist schließlich immer auch eine Frage der Interpretation und der Deutungshoheit. Schwierige Zeiten erwarten den nächsten Präsidenten, die Gefahr einer echten Revolution besteht, zumindest im Moment, allerdings nicht.