Joe Bidens Krux: Die USA und die gespaltene Nation

Nach der Wahl schlägt Joe Biden, der nächste US-Präsident, bewusst  versöhnliche Worte an, doch der Graben den vier Jahre Trump hinterlassen haben, wird nur schwer zu überbrücken sein. Biden ist mit einer Krux konfrontiert, die keine einfache Rückkehr zum status quo ante Trump verspricht, zumal sich Beobachterinnen und Beobachter einig sind, dass der Trumpismus auch nach der Übergabe der Amtsgeschäfte im Januar 2021 ein ernstzunehmender Faktor in der US-Politik bleiben wird. Bidens Problem stellt sich dahingehend wie folgt dar: Er ist von der Mehrheit der Menschen gewählte US-Präsident in einem der weltweit bedeutendsten Nationalstaaten, in dem jedoch zwei Nationen entstanden sind, für die es scheinbar keine gemeinsame Schnittmenge mehr gibt.

Traditionell sind die US als Einwanderungsland multinational, d.h. es gibt unterschiedliche Nationen — etwa die sino-amerikanische oder hispano-amerikanische Nation. Als solche versteht man laut des französischen Orientalisten und Historikers Ernest Renan  (1823-1892) eine sozio-kulturelle Gemeinschaft, die sich durch eine geteilte Vergangenheit bzw. ihr kulturelles Erbe sowie den aktuellen Konsens der Menschen, in dieser zu leben, definiert. Die einigenden Elemente der amerikanischen Nation, die diese verschiedenen Identitäten zu absorbieren verstand und zu einem multinationalen Amgalgam formen konnte, sind jedoch mehr und mehr verloren gegangen. Historisch bedingt war der Glaube und die Akzeptanz der Verfassung sowie der darin zugesicherten Werte — Leben, Freiheit und das Streben nach Glück — ausreichend, um Teil der amerikanischen Nation zu sein, die sich weniger über Sprache oder bestimmte kulturelle Faktoren definiert, jedoch von einer Überbetonung des  Kapitalismus, man denke an den amerikanischen Traum, vom Tellerwäscher zum Millionär. Dabei war die amerikanischen Nation ebenso imaginiert, denn sie beruhte, im Sinne Benedict Andersons, auf der Annahme, dass alle Amerikaner die genannten Grundwerte teilten. Unterschiedliche nationale Identitäten existierten also, gerade weil die Rechte der unterschiedlichen ethnischen Gruppen in einem langwierigen Prozess des politischen Fortschritts gleichgestellt wurden. Die Nation hatte sich also verändert, und die weiße, christliche, männliche und unfreie Sklavenhalternation von 1776 war zu einer multikulturellen,  multireligiösen, emanzipierten — wenn auch noch nicht völlig gleichberechtigt — und freien  Nation des späten 20. Jahrhunderts geworden. Heute stellt sie sich allerdings tief gespalten dar, so dass ein Graben entlang der politischen Lager verläuft, der erneut zwei antagonistische Nationen, eine konservativ republikanische sowie eine progressiv demokratische, geschaffen hat, die sich dichotom und beinahe unüberwindbar gegenüberstehen. 

Joe Biden wird eine Lösung für dieses Problem finden müssen, d.h. er muss eine Möglichkeit schaffen, die es erlaubt diese bestehende Spaltung zu überwinden. Eine Besinnung auf die Grundwerte der Verfassung, die in den letzten Jahren erodiert und beinahe der Lächerlichkeit preisgegeben worden sind, ist dabei unumgänglich. Gleichzeitig kann er angesichts der Probleme unseres Jahrhunderts nicht zu lange warten, für einige Menschen in den USA unangenehme Entscheidungen zu treffen. Daher ist es unabdingbar, den Einigungsprozess schnell zu vollziehen. Dabei könnte es durchaus ratsam sein, neue nationale Werte zu schaffen, die sich gleichfalls den Krisen unserer Zeit widmen: ein stärkeres Klimabewusstsein, solidarische Werte sowie soziale Gerechtigkeit. Mit diesen Themen könnte Biden eine neue Nation, quasi auf Basis der Fortsetzung der traditionellen Werte bei gleichzeitiger Adaption aktueller Notwendigkeiten, schaffen, die dazu in der Lage ist, die Spaltung zu überwinden und die USA geeint in die Zukunft zu führen.

Dass Nationen oft künstlich geschaffen wurden, indem bestimmte nationale Narrative konstruiert und beschworen worden waren, weist bereits auf diese Möglichkeit hin. Ob die Bevölkerung der USA allerdings wirklich willens ist, gemeinsam nach vorne zu schauen und die letzten Jahren der Spaltung hinter sich zu lassen, muss sich erst zeigen. Der Erfolg wird sicherlich aber davon abhängen, wie stark das Narrativ ist, das Biden für die neue amerikanische Nation anbieten kann. Fakt ist, dass nur die Überwindung der Spaltung dauerhaft dafür sorgen kann, dass die USA ihre Handlungsfähigkeit und internationale Glaubwürdigkeit zurückgewinnt. Allerdings zeigt ein Blick in die amerikanische Geschichte ebenfalls, dass solche Spaltungen kein neues Phänomen sind. Dass sie jedoch lange nachwirken können, wurde bei der Diskussion um Monumente für bekannte Südstaaten-Generäle des Sezessionskrieges gleichfalls deutlich. 

Ein besonders einendes Element könnte heute in den USA aber die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und dem Ende der prekären Lebensverhältnisse sein, denn die Ungerechtigkeiten des kapitalistischen Systems zeigen sich nirgends in der westlichen Welt so deutlich wie in den USA. Es wäre ein Ansatz, ein echtes und auf Solidarität gegründetes Wir-Gefühl zu schaffen, allerdings müsste dazu auch der Angst vieler Amerikaner vor einem „drohenden Kommunismus“ der Nährboden entzogen werden. Der Philosoph Cornel West hat dahingehend in einem Interview mit Jacobin gefordert, die Kommodifizierung von allem und jedem in den USA zu bekämpfen und die Kritik des Kapitalismus, des Patriarchats, der Homophobie sowie der weißen Vorherrschaft (white supremacy) fortzusetzen. Er weist zudem darauf hin, dass es alternative Visionen für die USA, jenseits isolierter Identitäten, bedarf, um Alternativen zum existierenden „räuberischen System des Kapitalismus“ zu erarbeiten und anbieten zu können. 

Wenn Joe Biden also versuchen sollte, den USA ein neues nationales Narrativ zu geben, wird es für die Zukunft besonders bedeutend sein, welche Rolle er dem Kapitalismus innerhalb der US-Nation zuweisen wird. Eine versöhnte Nation scheint dabei einfacher zu schaffen zu sein, wenn diese auf versöhnlicher Solidarität als auf antagonistischer Konkurrenz einer vom Markt dominierten Gesellschaft fußte. Es geht um viel in diesen Tagen, in denen der neue US-Präsident seine Strategie für die Zukunft entwirft. Ob die neue Nation versöhnt und erfolgreich werden kann, hängt dabei auch davon ab, ob Joe Biden, trotz seines Alters, die Kraft hat, progressiven Ideen Raum zu geben oder ob er sich auf Althergebrachtes verlässt und ohne große Wagnisse regieren will. Hoffen sollten wir auf den erstgenannten Fall, rechnen vielleicht aber eher mit Letzterem. 

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