Wichtige Ereignisse beherrschen momentan die Berichterstattung der Medien: die Corona-Pandemie, islamistischer Terror in europäischen Städten sowie die Wahlen in den USA. Das sind natürlich bedeutende Themen und es ist wichtig, diese in den Fokus zu nehmen. Die mediale Aufmerksamkeit widmet sich in der Regel den Dingen, die vom größten Interesse sind. Doch dabei werden andere einfach ausgeblendet, was nicht bedeutet, dass es mit Blick auf die revolutionären Prozesse, die in den letzten Monaten begonnen haben, nichts Berichtenswertes gibt. Doch kaum einer spricht in den aktuellen Nachrichtensendungen und Talkshows mehr über Hong Kong, vergessen scheint die Lage in Belarus. Die Berichte der Medien sind dabei so wichtig, das Schicksal derer, die für Freiheit und Gerechtigkeit alles riskieren, im kollektiven Bewusstsein zu erhalten. Stattdessen verlieren die Menschen, und das wird durch die fehlende Berichterstattung nur zu deutlich zum Ausdruck gebracht, das Interesse an den Vorgängen in diesen Teilen der Welt.
Dahingehend wird vielleicht ebenso ein Fehler in der Wahrnehmung deutlich: Revolutionen sind keine momentanen Ereignisse, die von heute auf morgen die Welt verändern. Sicherlich geht mit ihnen eine zeitlich zusammengezogene Erwartungshaltung einher, wenn Revolutionärinnen und Revolutionäre darangehen die Welt, in der sie leben, zu verändern, denn die Hoffnung auf einen schnellen Wandel ist allen revolutionären Prozessen inhärent. Auch die Beobachterinnen und Beobachter erwarten einen schnellen Erfolg, doch was ist, wenn diese ausbleiben und die zähe Auseinandersetzung zwischen Regime und Revolutionsbewegung beginnt. Braucht es nicht gerade dann die mediale Wahrnehmung außerhalb des revolutionären Kontextes. Braucht es nicht dann die Aufmerksamkeit als eine Absicherung vor entgrenzter Gewalt eines sich sicher fühlenden Regimes. Was passiert nach dem abgelaufenen Ultimatum an Machthaber Lukaschenko in Belarus? Wie ist die Lage in Hong Kong? In dem Maße, indem die internationale Berichterstattung abnimmt, nimmt die Macht der Unrechtsregime wieder zu. Denn sie fühlen sich zu Recht unbeobachtet, sie fühlen sich stark.
Besonders enttäuschend ist diese Entwicklung für diejenigen in Belarus und Hong Kong, die sich der Revolutionsbewegung angeschlossen hatten, weil sie hofften, dass die Welt sie nicht ignorieren, sondern in ihrem Wunsch nach Freiheit und Gerechtigkeit unterstützen würde. Sie wurden verlassen und das nicht nur von denen, die über die Ereignisse für die verschiedenen Nachrichtensender berichten und den Katastrophen dieser Welt auf Schritt und Tritt folgen, um immer das Neueste, das Schrecklichste präsentieren zu können. Ebenso verlassen wurden sie von denen, die die Entwicklungen verfolgen und ebenso Freiheit und Gerechtigkeit für die Menschen in Belarus und Hong Kong fordern sollten und das weltweit. Der Erfolg einer Revolution im 21. Jahrhundert wird stark davon abhängen, ob eine globale Solidarisierung stattfinden kann oder nicht. Es ist falsch zu glauben, dass Revolutionen in geschlossenen geographischen Räumen stattfänden, denn der Erfolg oder Misserfolg einer revolutionären Bewegung hat mitunter globale Folgen, die zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht absehbar sind.
Darüber hinaus stärkt das abnehmende Interesse der Medien sowie Zuschauerinnen und Zuschauer bzw. Leserinnen und Leser die Wahrnehmung der Unrechtsregime, wenn es darum geht, die eigene Unangreifbarkeit zu inszenieren. Die abnehmenden Berichte vermitteln der chinesischen Regierung ebenso wie dem Regime in Belarus den Eindruck, dass die globale Empörung über die Unterdrückung von Protesten früher oder später abebbt, es müsse nur so lange gewartet werden, bis sich das mediale Interesse einem anderen aktuellen Ereignis zuwende. Schnell sind die Demonstrantinnen und Demonstranten dann vergessen, die Revolutionen verlassen. Sobald akute Probleme den Rahmen der Sichtbarkeit bzw. der kollektiven Wahrnehmung entschwinden, werden diese mehr und mehr auch aus dem Bewusstsein ausgeblendet. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Proteste aufgehört hätten, nur ist es wesentlich einfacher, gegen diese vorzugehen, wenn niemand zuschaut und sich mit den Repräsentantinnen und Repräsentanten der revolutionären Bewegungen solidarisiert.
Unser Jahrhundert muss ein stärkeres Bewusstsein für die revolutionären Ereignisse in allen Teilen der Welt entwickeln und wir müssen uns mit denen, die für Werte eintreten, die wir als fundamental anerkennen, solidarisieren. Eine verlassene Revolution wird scheitern, selbst wenn sie erfolgreich sein sollte. Gewalt wird zur determinierenden Kraft und die Vernunft wird nach und nach abgelöst von realpolitischen Machtkämpfen. Die Lippenbekenntnisse führender Politikerinnen und Politiker zu den Idealen der revolutionären Bewegungen lassen in der Regel nicht lange auf sich warten, besonders wenn die mediale Berichterstattung dadurch die Möglichkeit bietet, sich selbst zu profilieren. Doch sobald diese abebbt, widmen sich die einstigen Unterstützerinnen und Unterstützer im Geiste anderen Themen. Auch von ihnen wird die Revolution verlassen.
Und was bleibt einer verlassenen Revolution am Ende? Die Auseinandersetzung mit dem Regime flacht ab, immer mehr Menschen verlieren die Hoffnung und die Revolution versandet. Oder die Frustration schlägt in Gewalt um und es droht ein jahrelanger Bürgerkrieg. Zu viele Revolutionen der Vergangenheit wurden bereits verlassen: in Syrien ebenso wie in der Ukraine. Dort gab es zunächst auch ein großes Interesse an den Ereignissen. Heute gibt es das bisweilen nur noch zu Jahrestagen, um Bilanz zu ziehen. Zu viele Revolutionärinnen und Revolutionäre wurden in unserem Jahrhundert, das gerade einmal zwei Dekaden überspannt. Sofern es eine revolutionäre Hoffnung für die verbleibenden acht geben soll, wird es Zeit diesen Trend umzukehren. Unsere Zukunft wird in Teilen nämlich auch davon abhängen, ob Belarus oder Hong Kong ihre Freiheit verlieren oder dazu in der Lage sind, diese zu behaupten bzw. zurückzuerlangen. Solange wir die Menschen und die Gefahren die sie in Kauf nehmen, um der Freiheit den Weg zu ebnen, wenn wir sie auf diesem Weg zumindest ideell begleiten und sie nicht verlassen, ja sich selbst und ihren Peinigern überlassen, dann hat die Revolution des 21. Jahrhunderts eine Zukunft, die allen zum Vorteil gereichen wird. Wenn wir sie hingegen verlassen, vergessen oder verdrängen, dann wird ihr Schicksal irgendwann zu unserem. Denn wer sich in Zeiten der Not anderer nicht solidarisiert, der kann dasselbe nicht für sich in Anspruch nehmen, wenn die Positionen einmal andersherum eingenommen würden. Die Revolutionärin und der Revolutionär der Zukunft müssen sich deshalb schon heute mit den Revolutionärinnen und Revolutionären der Gegenwart solidarisieren und dürfen deren Anstrengungen und ihre Opfer nicht vergessen, dürfen sie nicht allein lassen, sie nicht verlassen.