Quo Vadis Revolution? Zur Lage revolutionärer Prozesse des frühen 21. Jahrhunderts
Eine verfußnotete Version des Beitrages findet sich hier.
Revolutionen werden das 21. Jahrhundert bestimmen. Schon Friedrich Engels hatte in seinen Arbeiten, die einen Versuch darstellten, eine erste Erklärung und Theoretisierung revolutionärer Prozesse bereitzustellen, darauf hingewiesen, dass Krisen ein wesentlicher Auslöser für Erhebungen der Massen – die Revolution kann schließlich kein Umsturzversuch kleiner Gruppen sein, sondern muss eine Majoritätsbewegung bzw. -forderung darstellen – gegen bestehende Systeme, meist sowohl politischer als auch sozialer Natur, sind. Krisen gibt es auch seit Beginn des 21. Jahrhunderts in ausreichender Zahl: Globalisierungskrise, Kapitalismuskrise, Klimakrise und nun auch noch die Coronakrise. Bedeutet das, dass wir bald einer globalen Revolution gegenüberstehen werden?
Momentan bietet sich ein Bild verschiedener Protestbewegungen, die sich gegen diverse Missstände gebildet haben: Die Organisatoren der Fridays for Future wenden sich gegen die Klimakrise, die Black Lives Matter-Bewegung richtet sich gegen systemischen Rassismus, und das nicht nur in den USA, und in Belarus haben sich die Massen zum Ziel gesetzt, ein neues politisches System, das auf der Freiheit der Entscheidung basieren soll, zu etablieren. Keine dieser Protestbewegungen kann mit Blick auf das Erreichte als Revolution bezeichnet werden, allerdings würden wir letztere dann doch eher mit Blick auf ein noch nicht erreichtes, vielleicht noch nicht einmal gefordertes Ziel definieren. Die Revolution, um den Begriff hier noch einmal kurz zu definieren, ist doch der Versuch einer gesellschaftlichen Mehrheit, in der Regel von einer Krise ausgelöst, ihre eigene politische und soziale Ordnung in einer zeitlichen Dichte, d.h. schneller als mit den Mitteln der Reform möglich, gegen den Wunsch einer dominierenden Minderheit — Adel, Diktatur, Oligarchie, Plutokratie, etc. — neu zu gestalten, bestehende Missstände zu überwinden und Begrenzungen der verschiedenen individuellen Freiheiten zu beenden.
Erst die Überwindung der als schädlich, ja toxisch betrachteten Zustände, gegen die sich die in ihrem Anspruch aber durchaus revolutionären Bewegungen protestieren, erreicht de facto eine erfolgreiche Revolution, eine Umwandlung des bestehenden Systems in politischer, sozialer, ja sogar ökologischer Art, die so grundlegend ist, dass sie mit diesem nichts mehr gemein haben wird. Das heißt, dass erst der Verlauf des revolutionären Prozesses darüber entscheidet, ob eine Revolution der Versuch der Transformation bleibt oder zur erfolgreichen Transformation durch Revolution werden kann.
Auf Basis dieser Vorüberlegungen stellt sich demnach die Frage mit Blick auf das aktuelle politische Weltgeschehen: Wohin führt die Revolution im 21. Jahrhundert? Darauf soll im Folgenden, auf Basis eines theoretischen, zehnstufigen Vergleichsmodells, keine allgemein gültige Antwort gegeben, sondern vielmehr einige Vorschläge unterbreitet werden, wie bzw. ob sich die aktuellen Protestbewegungen zu Revolutionen weiterentwickeln könnten und welche Gefahren diese gegenüberstehen.
Das theoretische Vergleichsmodell, welches mit Blick auf historische Fallbeispiele erarbeitet wurde, geht davon aus, dass Revolutionen die folgenden zehn Phasen durchlaufen:
- Die Missachtung von Rechten der Bevölkerung (ökonomisch, politisch, sozial): Diese Missachtung muss nicht de jure erfolgen, sondern als solche von einer breiten Masse wahrgenommen werden.
- Widerspruch einer kritischen Masse: Es formiert sich eine kritische Masse, die mit den aktuellen Verhältnissen nicht länger einverstanden ist.
- Protest.
- Reaktion der Regierenden, d.h. Kompromiss, Ignoranz oder Gewalt.
- Umkehrgrenzpunkt (Point of no Return) der Revolution, oft durch Gewalt der Machthaber ausgelöst. Erst hier wird der revolutionäre Charakter einer Protestbewegung voll definiert, da ab diesem Zeitpunkt nicht mehr nach einem Kompromiss, sondern vielmehr nach der Überwindung bestehender Verhältnisse gestrebt wird.
- Konflikt zwischen Regierenden und Revolutionärinnen sowie Revolutionären, der sich gewaltsam gestaltet.
- Erfolg der Revolution, sofern Mehrheit die Veränderungen akzeptiert und diese gegen Widerstand (auch militärisch) gesichert werden können. Hier müsste ein erfolgreicher Revolutionsprozess enden und zur Etablierung eines neuen politischen und sozialen Systems, das auf Mehrheiten fußt und dadurch gesichert ist, führen.
- Interner Machtkampf zwischen Revolutionsparteien, im Zuge dessen über die Zukunft und die Interpretation des revolutionären Prozesses gestritten wird.
- Einsatz von Gewalt gegen interne Gegner (Terror).
- Etablierung eines neuen Regimes (Militärdiktatur, Parteidiktatur, etc.).
Ausgehend von diesem Modell können die aktuellen und potentiell revolutionären Entwicklungen des noch jungen 21. Jahrhunderts kurz charakterisiert werden.
Zunächst einmal muss es Anliegen jeder Protestbewegung sein, die in ihren Zielen revolutionär ist, die Massen von ihrer Sinnhaftigkeit zu überzeugen. Aus chinesischer Perspektive hat die Protestbewegung in Hong Kong das nicht erreicht und wird, mitunter durch die Anwendung des neuen Sicherheitsgesetzes, ebenso einfach und brutal niedergeschlagen werden können, wie die Proteste auf dem Tiananmen-Platz im Juni 1989, zumal internationaler Protest der weiter gehen könnte als moralische Lippenbekenntnisse aufgrund der wirtschaftlichen Abhängigkeit von China kaum ausreichen werden, das Reich der Mitte zu demokratisieren. Ein Umkehrgrenzpunkt und damit ein echtes revolutionäres Potential für eine politische und gesellschaftliche Veränderung Chinas kann somit gar nicht erst erreicht werden. Auch die Klimarevolution oder ein Erfolg der Black Lives Matter-Bewegung sind nur dann möglich, wenn die Masse der Bevölkerung in den jeweiligen nationalen und teils internationalen Kontexten dazu bereit ist, sich mit der Bewegung zu solidarisieren. Bis dahin können die Proteste, die sich in vielen Städten geformt haben, von den Entscheidungsträgern, die jenseits der oftmals nur regionalen Kontexte agieren, also etwa Donald Trump mit Blick auf die Proteste in den USA, gewaltsam beantwortet oder in ihrer friedlichen Form gänzlich ignoriert werden. Nur durch die Transformation in eine echte Massenbewegung könnte ausreichend notwendiger Druck aufgebaut werden, um einen Wandel, der per se noch nicht zwingend eine Abschaffung des Systems verlangt, sondern zunächst nur Reformen anstrebt, in die Wege zu leiten. Die erfolgreiche Reaktion auf existierende Krisen braucht demnach eine Anerkennung des Problems durch die Entscheidungsträger sowie eine versöhnliche Reaktion. Ignoranz oder Gewalt als Antwort werden das Problem nicht lösen, selbst wenn die offenen Kritiker, sei es nun des Landes verwiesen, in Haft, vergiftet – wie im Falle der aktuellen politischen Revolutionsbewegungen – oder marginalisiert, öffentlich angefeindet, verunglimpft bzw. für verrückt erklärt werden – wie die Aktivistinnen und Aktivisten, die gegen gesellschaftliche Misstände in vielen Ländern protestieren.
Aus Sicht der politisch Verantwortlichen sowie der finanziellen Eliten kann eine echte Revolution, das heißt eine gewaltsame Überwindung des bestehenden Systems in Phase 6 des beschriebenen Modells in kurzer Zeit und eine anschließend, oft ebenso gewaltsame Neuordnung, nicht im Sinne ihrer eigenen Existenz sein, wenn sich denn einmal ein echter Massenprotest kristallisiert haben sollte. Dann können nur ein Einlenken und echte Reformen eine völlige Revolution, d.h. in diesem Sinne eine Veränderung der politischen Zustände sowie gänzliche Überwindung der herrschenden Eliten verhindern. In dem Moment – am Umkehrgrenzpunkt eines revolutionären Prozesses –, in dem die Protestierenden den Glauben daran verlieren, dass Reformen tatsächlich möglich sind, werden diese von neuen Forderungen, die die gesamte Überwindung des herrschenden Systems sowie der dieses repräsentierenden politischen Eliten als Ziel definieren, geleitet. In Belarus ist dieser Punkt bereits erreicht, denn das Regime von Machthaber Lukaschenko hat mehr als deutlich gemacht, dass es nicht bereit ist, Reformen, die die eigene Macht in irgendeiner Form beschneiden könnten, akzeptieren will und wird sich, unterstützt durch Russland und Wladimir Putin, nicht umstimmen lassen. Der Kurs für Belarus scheint damit klar und dürfte auf lange Sicht in einem Bürgerkrieg (Phase 6 bzw. 8, sofern Lukaschenkos Regime zusammenbricht) enden, der sich ähnlich wie in Syrien (momentan Phase 6) oder der Ukraine (momentan Phase 8) lange hinziehen wird, da die jeweiligen Revolutionen zu internationalen Konflikten geworden sind, in denen die Großmachtpolitik des 21. Jahrhunderts ihren Niederschlag gefunden hat.
Die Prognosen für Hong Kong und Belarus, basierend auf der historischen Erfahrung revolutionärer Prozesse, sind demnach alles andere als positiv. Eine Revolution konnte sich im ersten Fall gar nicht entwickeln, im zweiten droht sie zu scheitern. In Belarus deutet zudem alles darauf hin, dass eine erneute Eskalation eines revolutionären Prozesses, der am Unwillen der Machthaber zu Reformen, aber gleichfalls auch einer internationalen Intervention zu Gunsten desselben scheitern könnte. Für Putin wäre eine pro-europäische Ausrichtung der belarussischen Bevölkerung, vor allem auch in Abstraktion zur bisherigen pro-russischen Politik Lukaschenkos, genauso inakzeptabel wie eine pro-westliche Ukraine und damit einhergehend eine weitere Ostverschiebung der Europäischen Union oder der NATO. Die weitere Internationalisierung der politischen Revolution in Europa scheint daher unausweichlich, zumal hier konkrete Sicherheitsinteressen zur Debatte stehen und sich mit Russland und der EU zwei Opponenten direkt gegenüberstehen. Dabei gilt es jedoch zu bedenken, dass die europäische Werteunion nur dann aktiv werden kann und sollte, wenn Einheitlichkeit über das Vorgehen besteht, denn ein vorschnelles Lippenbekenntnis ohne echte Unterstützung evoziert falsche Hoffnungen, die dann von den Menschen, die in Bürgerkriegsverhältnissen leben müssen, bezahlt werden, und das auch, wenn keiner mehr über die Probleme berichtet. Belarus könnte in der Folge ebenso schnell aus den Medien verschwinden, wie die Berichte über die Ukraine.
Die politische Perspektive auf mögliche Revolutionen zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist also alles andere als gut. China hat das revolutionäre Potential in Hong Kong bereits unterdrückt, in Belarus will die Bevölkerung zwar den politischen Wandel, wird ihn aber kaum ohne Gewalt und die Folgen, die nicht im Sinne der Demonstrantinnen und Demonstranten sind, durchsetzen können. Bleibt die Frage nach den anderen Protestbewegungen, die eingangs angesprochen wurden. Haben die gesellschaftlich bzw. ökologisch orientierten Demonstrationen, die den Wunsch nach Veränderung in ihren vielen nationalen Kontexten ausdrücken, das Potential zu einer echten Revolution? Können sie wirklich einen Wandel erreichen? Aus Sicht der bereits wiedergegebenen These Engels, dass Revolutionen vom Willen der Massen zum Wandel anhängen, scheint das nicht der Fall zu sein, denn zu viele profitieren von der Negation bestehender Probleme. Allerdings, und das kann zum aktuellen Zeitpunkt nur Vermutung bleiben, werden die Langzeitfolgen der aktuellen Pandemie das soziale Konfliktpotential erhöhen und möglicherweise zu verschiedenen globalen Protestwellen führen. Diese mögen dann in ihrer Gesamtheit zwar als eine Art weltweite Protestbewegung – wie etwa 1916-1921, 1968, 1989-1991 – erscheinen, bedürften aber einer besseren und institutionalisierten Verdichtung, um politisch wirksam aufzutreten und konkrete Reformwünsche zu formulieren, wenn das bestehende politische Weltsystem nicht per se in Frage gestellt und durch Graswurzelbewegungen ersetzt werden soll. Gerade die letzteren scheinen nicht wirklich massentauglich zu sein, da sie bei dem Gros derer, die an einer globalen Revolution mitwirken müssten, noch nicht als akzeptable Lösung „angekommen“ sind.
Kann es also im 21. Jahrhundert tatsächlich erfolgreiche Revolutionen, ja vielleicht sogar die eine globale Revolution geben, die das Leid der Menschen und die Ausbeutung des Planeten mit all seinen Ressourcen beendet? In vielen Bereichen werden revolutionäre Veränderungen schließlich ganz selbstverständlich vorhergesagt. Problematisch ist mit Blick auf die Revolutionen der Vergangenheit der Umstand, dass die meisten Fallbeispiele politisch, trotz eines durchaus ideellen Wertes, gescheitert sind und ebenso viele von ihnen in gewaltsamen Bürgerkriegen versanken, um nur erneut stabile, allerdings nicht weniger undemokratische politische Systeme zu etablieren – hier könnten China, die Sowjetunion, aber auch der Iran genannt werden. Als Revolutionsforscher fokussiert man den Blick allerdings vielleicht allzu sehr auf die Gefahren revolutionärer Prozesse, da die historischen Beispiele ungeachtet ihrer Auswirkungen auch positiven Einfluss auf die intellektuell-idealistische Entwicklung der Menschheit genommen haben. Es sollte daher auch im 21. Jahrhundert das Prinzip Hoffnung nicht gänzlich vernachlässigt und zugleich bedacht werden, dass aktuelle Ereignisse auch im Wissen um und im Bewusstsein der Vergangenheit ablaufen. Die Aufklärung der Massen, die eine Revolution doch entscheidend mitbestimmen, muss, vor allem mit Blick auf die großen Protestbewegungen unserer Zeit gegen Rassismus, für Gleichberechtigung und Klimaschutz, weiter vorangetrieben werden. Erst wenn das Bewusstsein der Massen in einer gewissen Geschlossen- und Entschlossenheit mündet, kann eine revolutionäre Veränderung stattfinden, schließlich sind Revolutionen Teil eines permanenten Entwicklungsprozesses. Freiheit, und besonders die Freiheit, eine Zukunft zu erdenken sowie im Sinne einer besseren Welt umzusetzen, sei es nun im politischen, sozialen oder ökologischen Sinne, wird deshalb auch weiterhin das bestimmende Motiv von Protestbewegungen, die in ihrer Existenz bereits den Kern einer revolutionären Veränderung in sich tragen, bleiben.
Das 21. Jahrhundert hat erst begonnen, doch es ist bereits mehr als deutlich geworden, dass die Revolution auch ein Teil dieses Jahrhunderts sein wird. Welche Veränderungen tatsächlich durch revolutionäre Prozesse zu erreichen sind, ob die Massen sich wirklich, entweder durch Aufklärungsarbeit motiviert oder von Krisen getrieben, für eine Revolution einsetzen werden, bleibt abzuwarten. Hoffen sollten wir trotzdem auf das revolutionäre Potential der Zukunft, zeigen die benannten Krisen doch deutlich auf, dass es genug Missstände auf verschiedenen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens in diesem Jahrhundert gibt, die eine revolutionäre Form von Veränderung unabdingbar zu machen scheinen.